Seit vielen Jahren zeichnet sich im Bildungsbereich eine neue Entwicklung ab. Ganzheitliches Lernen von Kindern und Jugendlichen durch Engagement steht dabei im Mittelpunkt. Als zentraler Begriff in diesem Prozess hat sich „Civic Education“ (1) durchgesetzt: die Erziehung und Bildung zum:r kompetenten, mündigen Bürger:in.
Hierin bündeln sich Ansätze und Strategien der politischen Bildung, der Stärkung von Partizipation von Kindern und Jugendlichen, der demokratischen Gestaltung des Alltags in pädagogischen Einrichtungen sowie der Förderung von Bürgerschaftlichem Engagement (2). Civic Education zielt somit auf die Ausbildung von Haltungen, Bereitschaft und Fähigkeiten zur Mitbestimmung und Mitgestaltung unserer Gesellschaft ab.
Im Sommer 2012 traten über vierzig Organisationen an das Landesnetzwerk Bürgerengagement Berlin mit dem Wunsch heran, in Berlin die Verbindungen und Synergien der Bereiche „Engagement“ und „Bildung“ für Kinder und Jugendliche zu intensivieren und zu einem eigenen, anerkannten Themen- und Handlungsfeld in Politik und Gesellschaft zu entwickeln.
In einem Diskussionsprozess unter Beteiligung von über 150 Fachleuten und in drei Diskursforen von Herbst 2014 bis Frühjahr 2015 wurde ausgehend von dem Konzept Civic Education für die Berliner Situation Folgendes erarbeitet.
Civic Education und demokratisches Alltagshandeln lassen sich vor allem durch Verantwortungsübernahme und Selbstwirksamkeit erfahren. Dabei finden formale, informelle und non-formale Bildungsprozesse, in und neben der Schule, z.B. in Vereinen, Verbänden, Projekten und Initiativen statt. Sie eröffnen Möglichkeiten für ein Lernen in lebensweltlichen Zusammenhängen und damit ein gemeinsames Problemlösen mit anderen.
Der Dreiklang aus Verantwortungsübernahme, Erfahrung der eigenen Wirksamkeit und Anerkennungskultur ist für die Entwicklung von Kindern bereits ab dem Kleinkindalter und danach lebensbegleitend für ganzheitliches Lernen ausschlaggebend. In diesem Aneignungsprozess wird aus „der Welt“ „meine Welt“. Damit dieser Erkenntnis ein selbstbestimmtes Engagement folgt, braucht es Freiräume für die Selbstentfaltung von jungen Menschen.
Alle pädagogischen Einrichtungen sind daher als Orte dieser Lern-, Identifikations- und Mitbestimmungsprozesse zu gestalten und zu befördern. Eine Öffnung der Bildungseinrichtungen zum Gemeinwesen und eine Zusammenarbeit mit bürgerschaftlichen Akteur:innen schafft eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung einer demokratischen Gestaltungs- und Mitwirkungskultur für Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag. Dabei sind auch die Eltern einzubeziehen.
Partizipation und Engagement von Kindern und Jugendlichen werden durch den gesetzlichen Rahmen sowie durch Programme gefördert und unterstützt. Kinder und Jugendliche werden in ihren Lebenswelten zum Mitreden, Mitmischen, Mitgestalten und Mitentscheiden angeregt und begleitet. Dabei können sie sich als Expert:innen für ihre eigenen Belange in Familie, Kiez, Kindergarten und Schule aber auch in Politik und Verwaltung einbringen. Die Grundlage dafür bilden die UN-Kinderrechtskonvention, das Kinder- und Jugendhilfegesetz und das Schulgesetz.
Unter anderem wurden jährliche Foren und Beteiligungsprozesse auf Bezirksebene entwickelt, der Jugend-Demokratiefonds Berlin wurde zur Förderung neuer Beteiligungsformate aufgelegt.Kinderbüros, Kinder- und Jugendparlamente sowie Programme zur politischen Beteiligung von Kindern und Jugendlichen bestehen bereits an vielen Orten und in vielen Zusammenhängen der aktiven Stadtgesellschaft in Berlin. Trotz vielfältiger Engagementangebote von und für Kinder und Jugendliche in Berlin besteht immer noch großer Handlungsbedarf. (3)
Die am Leitbildprozess der „Charta Bildung.Engagiert“ Beteiligten wenden sich daher an die Abgeordneten im Berliner Parlament als die gewählten Vertreter:innen der Bürgerschaft und fordern gemeinsam mit den Akteur:innen im Bereich Bildung und Bürgerschaftliches Engagement zu einer Stärkung von Civic Education in Berlin durch die Umsetzung der folgenden Punkte auf.
Die vielfältigen Anforderungen an eine Umsetzung von Beteiligungskonzepten können nur durch eine fachliche Vorbereitung der Akteur:innen ermöglicht werden. Es bedarf umfangreicher Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote für pädagogisches Personal. Eine Aufnahme von Civic Education in die Lehrpläne sowie die verbindliche Einrichtung von Zeitressourcen ist erforderlich, um die Verankerung an Kita, Schule und Jugendeinrichtung zu ermöglichen.
Die Vernetzung ermöglicht pädagogischen Einrichtungen komplexe Konzepte wie „Bildungslandschaften“ (4) zu realisieren. Strategien zur Implementierung, orientiert an den Interessen und Bedarfen der Kinder und Jugendlichen, gilt es zu entwickeln. Hier bedarf es der Einbeziehung politischer Akteur:innen auf Bezirks- und Landesebene. Für die berlinweite Vernetzung bedarf es einer koordinierten Informations- und Austauschplattform.
Um Kindern und Jugendlichen passgenaue Engagementformen zu ermöglichen, bedarf es einer Anlaufstelle. Dort erfahren sie Unterstützung bei ihrer Orientierung und Entscheidung zu ihrem Engagement. Es gilt somit eine altersgemäße Beratung – bestenfalls in Form von Peer-to-Peer-Ansätzen (5) – auszubauen, in die Fläche zu bringen und passende Angebote gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen zu entwickeln. Dies birgt auch die Chance, möglichst viele bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche zu erreichen und zu motivieren. Vorgeschlagen wird die Durchführung eines jährlich stattfindenden „Berliner Demokratietags“. Dies schafft die Möglichkeit, Engagement sichtbar zu machen, Vernetzung zu fördern, über bestehende Aktivitäten zu informieren sowie Anerkennungsformen zu etablieren.
Die Forderung nach geregelter Freistellung für bürgerschaftliches Engagement von Beschäftigten, insbesondere von Heranwachsenden, wird mit Nachdruck gestellt. Dies ermöglicht lebenslanges, zivilgesellschaftliches Lernen und gesellschaftliche Verantwortungsübernahme. Arbeitgeberverbände und Kammern können die Anerkennung des bürgerschaftlichen Engagements von jungen Beschäftigten und Bewerber:innen noch wesentlich deutlicher zeigen und so ihre Wertschätzung ausdrücken. Engagierte junge Menschen sind ein Gewinn für die Betriebe und die Arbeitskultur. Sie benötigen konkrete Unterstützung. Hierbei sollen die Arbeitgeberverbände und Kammern aufgefordert werden, ihre Anerkennung von bürgerschaftlichem Engagement von jungen Beschäftigten und Bewerber:innen als Ausdruck der Wertschätzung wesentlich mehr zu zeigen.
(1) „Civic Education (ins Deutsche übertragen: Bürgerschaftliche Erziehung) ist ein im angloamerikanischen Sprachraum entstandenes pädagogisches Modell mit dem Ziel, durch lebenslanges soziales und multikulturelles Lernen demokratisches Handeln und Denken einzuüben und dadurch sicherzustellen, dass Demokratie und Zivilgesellschaft in der Praxis funktionieren. Civic Education (auch Citizenship Education) kann als ‚Lernen für Demokratie und Zivilgesellschaft‘ übersetzt werden. Dabei geht es um die Gestaltbarkeit der Gesellschaft im Sinne einer künftig demokratischen, gerechten und friedlichen Welt. (…) Civic Education soll zum einen politisches Engagement und soziale Kompetenz fördern und zum anderen helfen, fundamentale demokratische Prinzipien zu verstehen und sich für diese einzusetzen.“ | Zitat: Stichwort Civic Education. Wikipedia, Stand 19.05.2015
(2) „Der Begriff des Bürgerschaftlichen Engagements, den die Enquete-Kommission zur ‚Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements‘ vorgeschlagen hat, ist nicht nur ein Sammelbegriff, der die Vielfalt der Engagementformen (Ehrenamt, Selbsthilfe, freiwillige Tätigkeit, …) im Überblick für eine zusammenhängende Analyse umfasst. In der Begriffsbestimmung wird dieses Engagement als ein Handeln verstanden, das in der Einstellung von Bürgerinnen und Bürgern erfolgt. Daher auch die Wortwahl ‚Bürgerschaftlich‘: Gemeint ist hier (…) das eigensinnige selbstgewählte Handeln selbstbewusster Bürgerinnen und Bürger.“ | Zitat: Ansgar Klein: Bürgerschaftliches Engagement und politische Partizipation. In: BBE. Newsletter für Engagement und Partizipation in Deutschland, (1)2015, 1
(3) „Ob Kinder und Jugendliche mitbestimmen dürfen, hängt aber nicht vom Goodwill der Erwachsenen ab. Das Berliner Ausführungsgesetz zum Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) macht Beteiligung verbindlich. Alle Fachkräfte aus Jugendhilfe und Planung, sowie alle Entscheidungsträger:innen aus Politik und Verwaltung sind gesetzlich zur Beteiligung verpflichtet: „In jedem Bezirk sind (…) geeignete Formen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an der Jugendhilfeplanung UND anderen sie betreffenden Planungen zu entwickeln und organisatorisch sicherzustellen.“ (§ 5, Abs.3 AG KJHG )“ | Zitat & Hervorhebung: Rebekka Bendig: Dossier Beteiligung, 10.05.2015
(4) „Kommunale Bildungslandschaften haben das Ziel, Schulen, Kitas und außerschulische Bildungseinrichtungen in einem Wirkungszusammenhang zu bringen und durch verstärkte Kooperationen Kindern und Jugendlichen bessere Bildungsbedingungen und vielfältige Bildungsmöglichkeiten zu bieten.“ |Bertelsmann Stiftung “Lernen vor Ort – Kommunale Bildungslandschaften”, 10.05.2015
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