Veröffentlicht am 12.06.2024
Die Zeitzeugenbörse fördert den intergenerationellen Austausch und bietet eine einzigartige Plattform für persönliche Erinnerungen. Durch das Engagement engagierter Menschen werden aus Geschichten Geschichte. Wir haben die Zeitzeugenbörse besucht und inspirierende Einblicke in ihre Arbeit erhalten.
von Daniel Büchel, Mitglied im Sprecher:innenrat und » Redaktionsteam des Landesnetzwerks Bürgerengagement Berlin e.V.
Ich treffe mich mit Jens Splettstöhser und Christin Sommerfeld von der Zeitzeugenbörse im Büro des seit 31 Jahren ehrenamtlich tätigen Vereins im Wedding. Beide sind seit mehreren Jahren im Verein aktiv.
Christin ist Historikerin und aus Überzeugung dabei. Mit 27 Jahren tauschte sie sich zwei Wochen lang intensiv mit einer Holocaust-Überlebenden in Israel aus. Über eine winzige Anzeige kam sie so zur Zeitzeugenbörse. Seit 2019 ist sie aktiv. Zuerst als Honorarkraft und Projektleitende in dem inzwischen abgeschlossenen zweijährigen Projekt mit Zeitzeug:innen mit Migrationsgeschichte. Mittlerweile engagiert sich Christin ehrenamtlich und ist für die Dokumentation und zukünftige Konzepte verantwortlich. Christin liebt die Geschichten. Dadurch wird Geschichte ganz konkret und emotional erlebbar.
Jens war Polizeibeamter und ist seit sechs Jahren im Ruhestand. Auch der 69-Jährige kam über eine Anzeige „Bürokräfte gesucht“ zu seinem Engagement. Zunächst half er im Büro aus und vermittelte Zeitzeug:innen. Schnell erkannte man seine organisatorischen Fähigkeiten und wählte Jens zum zweiten Vorsitzenden. Nach dem plötzlichen Tod des ersten Vorsitzenden trat er wenige Monate später die Nachfolge an und steht seitdem der Zeitzeugenbörse vor.
Das Lebensschicksal von Margit Korge hat Jens besonders berührt. Sie wurde 1930 als Tochter jüdisch-christlicher Eltern in Berlin geboren. Im Alter von elf Jahren wurde sie von Ordensschwestern in einem katholischen Kinderheim im Ortsteil Westend in Berlin-Charlottenburg aufgenommen. Die Verfolgung der Nationalsozialisten überlebte sie nur dank des Einsatzes der Ordensschwestern. Die mittlerweile heute 94-Jährige war eine der ersten Zeitzeug:innen des Vereins und ist bis heute aktiv. Bei einer Feierstunde zur Instandsetzung einer Gedenktafel am ehemaligen katholischen Kinderheim Anfang des Jahres 2024 fand sie bewegende Worte. Darunter waren auch Botschaften an die Schüler:innen der benachbarten Schule: „Lasst die Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, nicht allein, sondern kümmert Euch um sie, damit sie nicht empfänglich werden für radikale Ideen. Lasst nicht nach, das Gute zu bewahren und sucht Euch Vorbilder und Freunde – ich vertraue auf Euch!“ (aus » Zeitzeugenbrief März 2024, Seite 4 )
Christin hat ein Workshop mit Schülerinnen einer 9. Klasse sehr berührt. Im Austausch mit einer Zeitzeugin, die mit acht Jahren als Gastarbeiterkind nach Deutschland kam, reflektierten die Schülerinnen ihre eigenen Migrationsgeschichten und Rassismuserfahrungen. Wie können sie sich als Mädchen und junge Frauen behaupten? Was hat es mit Frauenrechten auf sich? Was bedeutet Zivilcourage? Die Schülerinnen seien sichtlich gestärkt aus dem Workshop gegangen, erzählt Christin berührt.
Der Einsatz der derzeit 130 Zeitzeug:innen ermöglicht vor allem Jugendlichen und Heranwachsenden in den Schulen einen emotionalen Zugang zu Geschichte und gestaltet diese einprägsamer und erlebbarer. Holocaust, der Nationalsozialismus und der 2. Weltkrieg werden nach wie vor am häufigsten nachgefragt. Um diese Zeitepochen auch ohne „Live-Berichterstatter“ lebendig zu halten, dokumentiert die Zeitzeugenbörse mittlerweile die Lebensschicksale der ältesten Zeitzeug:innen über YouTube und Podcasts. Auch der monatlich erscheinende Zeitzeugenbrief und Vorträge tragen zur Erinnerungsarbeit bei.
Gesamtgesellschaftliche Herausforderungen sind von Anfang an geschichtliche Relativierungsversuche, Antisemitismus und der Versuch, einen „Schlussstrich“ zu ziehen. Christin betont dann auch sehr: „Wir haben als Nation eine Verantwortung, mit dieser Geschichte umzugehen.“
Auf die Frage, wie Überlebende mit ihren Traumata umgegangen seien, antwortet Christin: „Einige Holocaust-Überlebende haben erst spät angefangen, darüber zu sprechen. Sie wurden von ihren Enkeln danach gefragt und stellten fest, dass es Ihnen gut tut, darüber zu sprechen. Aus dem offeneren Umgang mit der eigenen Geschichte haben sie Kraft geschöpft. Gerade Zeitzeug:innen, die in KZs und in DDR-Gefängnissen gesessen und großes Unrecht erfahren haben, reagieren sehr sensibel, wenn es um Beschönigungen geht. Erinnerungen bewirken bei den Zeitzeug:innen auch emotional viel, beispielsweise beim Austausch der Zeitzeug:innen untereinander. So diskutieren mitunter ehemalige DDR-Richter mit ehemaligen DDR-Insassen.
Für Erinnerungsarbeit in der eigenen Familie empfiehlt Christin, offen, neugierig und wertfrei zu fragen: Wie hast Du das empfunden? Das ermöglicht Gespräche und Austausch ohne vorherige Bewertungen oder gar Vorverurteilungen.
In der Zeitzeugenbörse, die mit dem Ziel gegründet wurde, den Austausch zwischen Ost und West nach der deutschen Wiedervereinigung zu fördern, ohne zu werten, sind derzeit 35 Engagierte und Ehrenamtliche zwischen Mitte 20 und 90 Jahren aktiv. In festen 4er-Teams wird das Büro in der Togostraße an drei Tagen in der Woche genutzt. Aufgaben sind vor allem die Pflege der Zeitzeugendatei und die Vermittlung von Zeitzeug:innen. Darunter ist beispielsweise eine 90-jährige Engagierte, die darüber hinaus die Fördermittelakquise unterstützt und englische Untertitel für die Zeitzeug:innenporträts formuliert.
Aktuell sucht der Verein weitere Engagierte für die grafische Gestaltung, Öffentlichkeitsarbeit und Social Media. Außerdem möchten Jens und Christin weitere Schulen und Lehrkräfte für die Zeitzeugenarbeit gewinnen. Ziel ist es, das Niveau von vor Corona wieder zu erreichen. Die Auswirkungen der Pandemie sind bis heute spürbar. 150 Zeitzeug:innen können aktuell pro Jahr an schulische und außerschulische Einrichtungen, Medienschaffende, Wissenschaftler:innen, privat Interessierte und auch das Auswärtiges Amt vermittelt werden. Vor Corona waren es 300.
Die Zeitzeugenbörse sucht außerdem weitere Zeitzeug:innen: Verfolgte homosexuelle Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus, Zeitzeug:innen mit Migrationsgeschichte bzw. die nachfolgende zweite und dritte Generation, Zeitzeug:innen aus der Ukraine. Durch die neu in die Lehrpläne aufgenommenen Themen der Widerstandsbewegung in der DDR und der außerparlamentarischen Opposition in der BRD werden auch Zeitzeug:innnen aus dieser Zeit gesucht.
Doch wie wird der Mensch eigentlich Zeitzeug:in? Wichtig ist es, seine Lebensgeschichte strukturiert vor einer Gruppe oder Schulklasse vortragen und Rückfragen beantworten zu können. Aspekte dabei sind: Wie spricht jemand über Geschichte? Was erzählt er/sie/they? Welche Meinung lässt sich daraus schließen? Die Biografien sollten anhand der Fakten nachvollziehbar sein. Extremistische Ansichten seien bei der Zeitzeug:innengewinnung die absolute Ausnahme, berichtet Christin.
Ein Element bei der Zeitzeug:innengewinnung ist der so genannte Halbkreis. Hier stellen Interessierte ihre Lebensgeschichte vor etablierten Zeitzeug:innen vor und beantworten Nachfragen. Es kommt zu Begegnung der Zeitzeug:innen und zum zeitgeschichtlichen Erfahrungsaustauschen.
Eine, die Zeitzeug:innen seit Jahren begleitet, ist Dr. Getrud Achinger. Sie wurde 2021 von der Landesfreiwilligenagentur Berlin als » Gestalterin der Zivilgesellschaft ausgezeichnet . Die beeindruckende Zeitzeugenarbeit wird vielleicht auch in Paris ihre Wurzeln schlagen. Dort ist eine Zeitzeugenbörse in Gründung.
Die Zeitzeugenbörse ist seit der Gründung des Landesnetzwerkes Bürgerengagement Berlin im Jahr 2005 Mitglied. Mit ihrer Erinnerungsarbeit trägt sie maßgeblich zu einer demokratischen, vielfältigen und offenen (Stadt-)Gesellschaft bei.
Zeitzeugenbörse e.V.
Telefon: (030) 44 04 63 78 E-Mail: info@zeitzeugenboerse.de
Möchtest Du stets auf dem Laufenden bleiben und keine Neuigkeit verpassen? Dann melde Dich für unseren Newsletter an.
© Landesnetzwerk Bürgerengagement Berlin e.V.